Denkerei (Büro)
An der Rehwiese 2
14129 Berlin
Telefon (030) 61671001
info@denkerei-berlin.de
Dienstag, 29.4.2014, 18:30 Uhr, Berlin, Denkerei
Die Geschichte der documenta in Kassel handelt seit 1955 davon, die jeweils relevante Kunst zu zeigen - und zugleich fortlaufend davon, wie und nach welchen Maßstäben die Qualität von Kunst bestimmt und beurteilt werden kann. Arnold Bode und Werner Haftmann beschrieben in 1950er und 1960er Jahren andere Qualitätsmaßstäbe als Harald Szeemann 1972 oder später Catherine David und Okwi Envesor. Während die Qualitätsdiskussion in den letzten eineinhalb Jahrzehnten zunehmend von kuratorischen Privattheorien bestimmt und immer unübersichtlicher wurde, zeigen die Quantitäten rund um die documenta heute eine einheitliche und eindeutige Tendenz: immer mehr Besucher, immer mehr Umsatz bei Katalogen und Übernachtungen. Gibt es rund um die documenta Querverbindungen zwischen künstlerischen Qualitätsdebatten und wirtschaftlich erfreulichen Quantitätssteigerungen?
Die der Presse mitgeteilten Umsatzrekorde sollen Unangreifbarkeit signalisieren. Was so viel Zustimmung findet, sollte nicht kritisiert werden, satte Quantitäten lassen alle komplizierten Nachfragen nach Qualitäten überflüssig erscheinen. Das Besucherzahlenargument lenkt jedoch von einer konzeptuellen Krise ab. Die Umwandlung der documenta von einer Ausstellung in ein Event bleibt für die Kunst, die auf der documenta gezeigt wird, nicht folgenlos. Im Gegenteil: Die Eventisierung der documenta verzerrt immer mehr, welche Kunst überhaupt in Kassel gezeigt werden kann und welche großen Bereiche heutiger Kunstpraxis strukturell und diskussionslos ausgeschlossen werden. Die scharfe Zensur findet dabei nicht plump statt. Nicht etwa die Kunst wird ausgeschlossen, die sich kritisch gibt und leicht als globalisierungskritisch oder migrationsskeptisch oder sonst wie soziologisiert lesen lässt. Es wird diejenige Kunst ausgeschlossen, die sich nicht leicht lesen lässt: Kunst, die darauf besteht, zuerst Kunst zu sein, also zuerst Bild, zuerst visuelle und räumliche Erfahrung, nicht zuerst Text, Meinung, Moral, schnelle Deutbarkeit.
Parallel zur Entgrenzung zwischen Text und Bild kommt es dabei zu einer Entdifferenzierung zwischen Ästhetik und Ethik. Formal mittelmäßige Gebilde leihen sich bei künstlerisch unlösbaren Weltproblemen das Kostüm eigener Bedeutsamkeit; die documenta-Besucher werden politisch an- und aufgeregt, ohne nach ihrem documenta-Ausflug irgendwelche ethischen Konsequenzen erwägen zu müssen.
Matthias Winzen ist Professor für Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der HBK Saar in Saarbrücken. 1961 in Köln-Porz geboren, studierte er zunächst von 1982 bis 1987 Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf bei Alfonso Hüppi, dessen Meisterschüler er wurde. Nach einem Studienaufenthalt in New York begann er 1988 an der Ruhr-Universität Bochum das Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Pädagogik. Für seine Arbeit als Kunstkritiker wurde Matthias Winzen 1994 mit dem Carl-Einstein-Preis für Kunstkritik der Kunststiftung Baden-Würtemberg ausgezeichnet. Ab 1995 war er als Projektleiter Bildende Kunst im Siemens Kulturprogramm tätig und kuratierte hier die Veranstaltungsreihen "Zuspiel", "Damenwahl" und "Deep Storage". Nach seiner Promotion nahm Winzen ab 1998 Lehraufträge an den Kunstakademien München und Düsseldorf wie auch an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg wahr, weiterhin eine Vertretungsprofessur an der Kunsthochschule Universität Kassel. Von 1999-2005 leitete er als Direktor die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden.